Kategorie: Essay

  • Der Mann blickte langsam auf und nahm abermals seine Brille ab. „Du bist immer noch da? Was muß man eigentlich tun, um so einen wie dich los zu werden, kannst du mir das mal verraten? Was hast du da eben so überaus Wichtiges zu sagen gehabt?“ „Nichts Wichtiges“, antwortete der Junge noch leiser. „Ich wollte nur — nicht alle Kinder sind so, wie Sie sagen.“ „Ach so!“ Der Mann zog in gespieltem Erstaunen die Augenbrauen hoch. „Dann bist du wohl vermutlich selbst die große Ausnahme, wie?“ Der dicke Junge wußte nichts zu antworten. Er zuckte nur ein wenig die Achseln und wandte sich wieder zum Gehen. „Und Manieren“, hörte er hinter sich die brummige Stimme, „Manieren hast du nicht für fünf Pfennig, sonst hättest du dich wenigstens erst mal vorgestellt.“ „Ich heiße Bastian“, sagte der Junge, „Bastian Balthasar Bux.“ „Ziemlich kurioser Name“, knurrte der Mann, „mit diesen drei B’s. Na ja, dafür kannst du nichts, hast ihn dir ja nicht selbst gegeben. Ich heiße Karl Konrad Koreander.“ „Das sind drei K’s“, sagte der Junge ernst. „Hm“, brummte der Alte, „stimmt!“

    Er paffte einige Wölkchen. „Na ja, ist ja auch ganz gleich, wie wir heißen, da wir uns ja doch nicht wiedersehen. Jetzt möchte ich nur noch eins wissen, nämlich wieso du vorhin mit solchem Karacho in meinen Laden eingebrochen bist.

    Machte ganz den Eindruck, als ob du auf der Flucht gewesen wärst. Stimmt das?“ Bastian nickte. Sein rundes Gesicht wirkte plötzlich noch etwas blasser als vorher und seine Augen noch etwas größer. „Wahrscheinlich hast du eine Ladenkasse ausgeraubt“, vermutete Herr Koreander, „oder eine alte Frau niedergeschlagen oder was euereins heutzutage so macht. Ist die Polizei hinter dir her, mein Kind?“ Bastian schüttelte den Kopf. „Heraus mit der Sprache“, sagte Herr Koreander, „vor wem bist du weggelaufen?“ „Vor den ändern.“ „Vor welchen ändern?“ „Den Kindern aus meiner Klasse.“ „Warum?“ „Sie… sie lassen mich nie in Ruhe.“ „Was tun sie denn?“ „Sie lauern mir vor der Schule auf.“ „Und weiter?“ „Dann schreien sie lauter so Sachen. Sie schubsen mich herum und lachen über mich.“ „Und das läßt du dir einfach so gefallen?“ Herr Koreander betrachtete den Jungen eine Weile mißbilligend und fragte dann: „Warum gibst du ihnen nicht einfach eins auf die Nase?“ Bastian schaute ihn groß an. „Nein – das mag ich nicht. Und außerdem – ich kann nicht gut boxen.“ „Und wie ist es mit Ringen?“ wollte Herr Koreander wissen. „Laufen, Schwimmen, Fußball, Turnen? Kannst du überhaupt nichts davon?“ Der Junge schüttelte den Kopf. „Mit anderen Worten“, sagte Herr Koreander, „du bist ein Schwächling, wie?“ Bastian zuckte die Achseln. „Aber reden kannst du doch immerhin“, meinte Herr Koreander. „Warum gibst du ihnen nicht heraus, wenn sie dich verspotten.“ „Das hab‘ ich einmal gemacht…“ „Na und?“ „Sie haben mich in eine Mülltonne geschmissen und den Deckel zugebunden. Ich hab‘ zwei Stunden gerufen, bis mich jemand gehört hat.“ „Hm“, brummte Herr Koreander, „und jetzt traust du dich nicht mehr.“ Bastian nickte. „Also“, stellte Herr Koreander fest, „ein Angsthase bist du obendrein.“ Bastian senkte den Kopf. „Wahrscheinlich bist du ein rechter Streber, wie? Der Klassenbeste mit lauter Einsern, der Liebling aller Lehrer, nicht wahr?“ „Nein“, sagte Bastian und hielt immer noch den Blick gesenkt, „ich bin letztes Jahr sitzengeblieben.“ „Gott im Himmel!“ rief Herr Koreander, „also ein Versager auf der ganzen Linie.“ Bastian sagte nichts. Er stand einfach nur da. Seine Arme hingen herunter, sein Mantel tropfte. „Was schreien sie denn so, wenn sie dich verspotten?“ wollte Herr Koreander wissen. „Ach – alles mögliche.“ „Zum Beispiel?“ „Wambo! Wambo! Sitzt auf dem Potschambo! Potschambo bricht, der Wambo spricht: Das war mein Schwergewicht.“ „Nicht sehr witzig“, meinte Herr Koreander, „was noch?“ Bastian zögerte, ehe er aufzählte: „Spinner, Mondkalb, Aufschneider, Schwindler…“ „Spinner? Warum?“ „Ich red‘ manchmal mit mir selber.“ „Was redest du da zum Beispiel?“ „Ich denk‘ mir Geschichten aus, ich erfinde Namen und Wörter, die’s noch nicht gibt, und so.“

  • Diese Inschrift stand auf der Glastür eines kleinen Ladens, aber so sah sie natürlich nur aus, wenn man vom Inneren des dämmerigen Raumes durch die Scheibe auf die Straße hinausblickte. Draußen war ein grauer kalter Novembermorgen, und es regnete in Strömen. Die Tropfen liefen am Glas herunter und über die geschnörkelten Buchstaben. Alles, was man durch die Scheibe sehen konnte, war eine regenfleckige Mauer auf der anderen Straßenseite. Plötzlich wurde die Tür so heftig aufgerissen, daß eine kleine Traube von Messingglöckchen, die über ihr hing, aufgeregt zu bimmeln begann und sich eine ganze Weile nicht wieder beruhigen konnte. Der Urheber dieses Tumults war ein kleiner, dicker Junge von vielleicht zehn oder elf Jahren. Das dunkelbraune Haar hing ihm naß ins Gesicht, sein Mantel war vom Regen durchweicht und tropfte, an einem Riemen über der Schulter trug er eine Schulmappe. Er war ein wenig blaß und außer Atem, aber ganz im Gegensatz zu der Eile, die er eben noch gehabt hatte, stand er nun wie angewurzelt in der offenen Tür. Vor ihm lag ein langer, schmaler Raum, der sich nach hinten zu im Dämmerlicht verlor.